Prosa

Alle Texte sind urheberechtlich geschützt und Eigentum der Autorin Sandra Fritz. Ausdruck und Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin Sandra Fritz  

 

  

Die Kiste

 

Sie klemmte zwischen Oberarm und Rumpf des katholischen Pfarrers. Fast bis zum Schluss klemmte sie dort und es sah aus, als wäre diese Kiste mit dem Oberkörper des Pfarrers verwachsen, als könne diese Holzkiste keinen Millimeter aus der Umklammerung verrutschen. Bis auf ein einziges Mal. Der Pfarrer tauschte die Seite. Die Kiste war dunkelbraun.

Auf dem Kirchplatz der Festtagskirche standen Bierbänke, Tische mit Tischdecken,  blaue Sitzkissen lagen auf den Bänken, weiß-gelb gestreifte Schirme waren zu Schutz aufgebaut, die kleine aufgebaute Bühne versprach Programm. Es duftete nach Bratwurst, Pommes und nach Wurstsalat mit Zwiebeln.


Pünktlich erschien, von  der Hauptstraße herkommend,  die kirchliche Konkurrenz. Der katholische Pfarrer tauchte gleichzeitig  zusammen zum katholischen Kirchengeläut auf. Obwohl der Glockenturm rund vierhundert Meter Luftlinie entfernt stand, war es hier hier noch überlaut zu hören. Katholische Glocken:  Vor allem laut, autoritär, eindringlich, schwer. Unter seinem Arm trug der Pfarrer die braune Kiste, sein Mitbringsel zum Fest.


Es hatten sich bereits  eine überschaubare Anzahl von Menschen auf dem Vorplatz der Kirche versammelt,  darunter der Bürgermeister, Geschäftsleute und andere wichtige Vereinsvorstände. Die Band spielte sich ein, einige Takte versprachen Jazz. 

Zuerst dachte ich, bei der Kiste handelt es sich um eine braune Kiste, die wahrscheinlich edlen Wein beinhaltet. Aber je länger ich Pfarrer Grube beobachtete, desto mehr erschien sie mir jetzt nur sehr dunkel.  Es könnte sich bei der Farbe auch um ein dunkles blau, das in Richtung braun geht, handeln. Dann vermutete ich, dass diese Kiste in Wahrheit schlicht schwarz angemalt war. Ich schob mich durch die Menschenmenge, um Grube und der Kiste näher zu kommen.  Ah, ja. Ich sah es dann:  Die Kiste war braun gewesen, wie gewöhnliches Holz eben, aber jetzt so in der Nähe,  sah ich ganz deutlich, sie war übertüncht worden und zwar mit einer Farbe in Richtung lederbraunschwarz. 

Vielleicht, sinnierte ich, hat Grube noch am Abend zuvor, so auf die Schnelle, weil die Kiste einige Macken hatte, noch nach einer Farbe gesucht, die vor allem schnell trocknet, und ein dickerer, dunklerer  Farbauftrag Materialfehler hilft zu kaschieren. 

Auf der Bühne formten sich die Menschen zu einer Gruppe und ein Foto wurde geschossen, die lokale Pressejournalistin war also auch da.     

Pfarrer Grube ging mit starkem Schritt an den Schirmen und Bänken vorbei und betrat die Holzbühne, die unter seinen Schritten knarzende Geräusche von sich gab. Zuerst stand er links dann ein wenig hinter Pfarrer Helmschmid,  ihm  wurde ein Geschenk des 2. Bürgermeisters der Kreisstadt überreicht, die Anwesenden kltaschten.  Die Journalistin wuselte von links nach rechts, knipste einige Fotos und die  Band spielte chilligen Sonntags-Matinee-Jazz.


Ich bin ein katholischer Bad-Boy und habe einen Bad-Boy Haarschnitt – ich sah eine Comic-Sprechblase über dem Kopf des Pfarrers in den wolkenlosen Himmel emporsteigen. Dabei schaute Grube in meine Richtung.  Er presste die Kiste unnatürlich eng an seinen Körper, als hinge sein Leben daran. Irgendjemand schob mich unsanft zur Seite, wollte nach vorne,  dabei schwappte Wein aus dem Glas, das der Mann wie eine Fackel vor sich trug auf meine Schulter. Er hatte sich in der vordersten Reihe sofort in ein Gespräch eingeklinkt, drehte sich noch einmal schuldbewusst zu mir und gestikulierte mit einem Achselzucken und einem freundlichen Lächeln eine Entschuldigung. Ich fühlte,  wie der Wein durch meine Jacke, durch meinen Pulli auf meine Haut kam und der lasurartige Text der Sprechblase schlängelte sich ziemlich langsam in den Himmel und die Worte wurden dadurch in die Länge gezogen und waren dadurch deutlicher zu lesen. Mir wurde kalt.    

 

Die Redner und Rednerinnen wechselten sich ab, die Chronik der 50 Jahre evangelische Kirche wurde skizziert, Anekdoten rezitiert und dabei nahm ich jetzt erst die ungewöhnliche Frisur des katholischen Amtsträgers zur Kenntnis. An den beiden Seiten waren seine blonden Haare abrasiert und auf der Kopfmitte trug er die Haare ein wenig länger, und er hatte sie zum Stehen gegeelt. Ja. Eindeutig. Das war ein Bad-Boy-Haarschnitt.

Vielleicht, dachte ich, ist mir jetzt etwas Abwegiges, etwas, zugegeben, sexuell Abwegiges in meinen Kopf gestiegen? Ein Vorurteil wahrscheinlich. Aber das passiert immer schnell im Zusammenhang mit Katholiken. In meinen Gedanken duellierten sich dunkelfarbige  verschlossene Kisten in einem  klösterlichen Anwesen. Manche schnappten auf und zu:  Gebein, Schädelknochen, Rubine und geheime Papierrollen fallen auf den Boden. Gleichzeitig dachte ich an die Inquisition und war sofort dankbar,  ihr entkommen zu sein. 

Ich lief zum Getränkestand und holte mir einen Sekt. Was härteres gab es um diese Uhrzeit leider nicht.    

Vielleicht, dachte ich, ist diese Frisur nur ein Frisör-Unfall. Pfarrer Grube trug eine gewöhnliche  Pfarrers-Kleidung. Sein Kollar blitzte hell weiß an seinem Hals. Krasser Kontrast zur Teilrasur am Kopf. 

Aber was bitte, war in der Kiste, die er immer so fest umklammert hielt. An beiden Handrücken quollen die lividen Adern dick und prall hervor.


Helmschmid, der protestantische Pfarrer sprach entspannt am Mikrofon. Als begnadeter Saxophon-Spieler überraschte er die Anwesenden mit seinem Versprechen, später die Band zu begleiten. Er wolle Charlie Parker-Stücke spielen. Dazu schickte er immer wieder herzliche Worte des Dankes in das Mikrofon und Pfarrer Grube wechselte immer häufiger die Körperseiten, in die er die Kiste klemmen konnte. Er wirkte gestresst. Und mir schien, dass diese Kiste auf einmal nicht mehr nur braun und auch nicht mehr schwarz war.  Jeder Farbton stimmte nämlich nicht und war im Übrigen vollkommen belanglos. Denn diese Kiste wirkte plump und schwer wie ein Stein und war  ziemlich sicher gefährlicher als ein Klotz.

Hoffentlich, dachte ich,  ist diese Kiste auch wirklich gar kein Hohlkörper und es ist einfach nichts in der Kiste drin. Denn man weiß nicht –  niemand weiß es –  was Katholiken in Kisten aufbewahren und vielleicht – man hat keine Kenntnis davon, hatte Pfarrer Grube an diesem Morgen nicht mehr gewusst, welche von den vielen braunen, schwarzen, honigbraun- gemaserten und kirschholzfarbenen Kisten, die unterschiedlicher nicht sein können, in Größe, Länge und Breite – (aber handlich sind alle diese Kisten immer) – welche er also genau mitnehmen sollte.

Alle sind ähnlich groß, und es gibt tatsächlich viele Kisten im Pfarramt, im Büro, aber auch im Keller, im Archiv und alle sind sie aus aus Holz, braun, hohl, gut verschließbar, und es sind auch viele Kisten verteilt in den weitläufigen Keller-Abteilen, dort in den Regalen, sogar in Truhen unter den Regalen und vielleicht hatte die Pfarramtssekretärin nicht aufgepasst und eine Kiste von ganz unten mit der von der ersten Reihe links hinten, also im Kellerregal, vier Etagen tiefer Keller, von dort die Falsche aus dem falschen Regal nach oben geholt? Und Grube hatte Macken entdeckt, spät nachts dann doch noch die Kiste mit schwarzer Farbe bemalt. Absurd, denn  vielleicht hat er auf eine Kindermärchenmelodie gesungen und ist um ein kleines Feuer gesprungen vor Häme, weil er ein katholische Pfarrer ist und alle Geheimnisse der heiligen Kirche für sich behalten darf, weil er weiß, dass alle Wachtmeister der Welt ihm nichts anhaben können! Ja, jetzt, wie ich das Faktische mit meiner Fantasie vermische schaue ich mir Grube an, tatsächlich, er hat viel Potenzial in diese Richtung. 

Durchaus. Was aber jetzt passieren könnte, wenn Helmschmid an diesem Jubiläumstag eine falsche Kiste öffnen würde. Und es käme etwas heraus, natürlich im abstrakten Sinne, nur sehr uneindeutig.  Es könnte sich aber auch endlich förmlich ausrollen und sich hier und heute in der Öffentlichkeit entfalten, es könnte aber auch etwas wahrhaftig Widerwärtiges aus der Kiste  herausstürzen, etwas das aussieht wie ein Kind etwa, ja sogar das, natürlich.  Und es würde anfangen zu stinken. Man würde zunächst nichts sehen können, nichts begreifen, aber dennoch und trotzdem: Es käme ein furchterregender Gestank, ein Gestank aus einer Kiste heraus, der nur herauskommen könnte, wenn diese Kiste plötzlich herunterfällt und es im Übrigen die falsche Kiste wäre, die aus Gründen von Leichtsinn und Überheblichkeit Verwechselte.

Nicht daran zu denken, was eigentlich so einen Gestank verursacht, wenn es plötzlich nicht mehr nach Bratwurst riecht, sondern nur abartig stinkt und was der Katholik Grube für ein arrogantes Gesicht dazu macht.  Ob die Band schlagartig aufhören würde zu spielen? Und was das Publikum macht, ob halb gegessene Bratwürste auf den Boden fielen, vor Schreck der Wurstsalat, die Gabeln hinterher. Ob überhaupt jemand in der Lage wäre, in diese Entsetzlichkeit hinein zu rufen? Aus Empörung. Ob mehrere Menschen Gläser zu Boden fallen ließen, ob es klirren würde nach Glas, das zerspringt. Ob jemand es wagt mutig seinen angewachsenen Mund zu öffnen, um passende Worte zu formen, vielleicht sogar laut zu schreien beginnt, so dass alle anderen Menschen angesteckt vom Geschrei, anstatt nur genussvoll und arglos Stücke von der eigenen Bratwurst abzubeißen, lauthals mit schreien anfingen, so dass also alle Menschen schreien, Grube, den Katholik  anschreien und es dann dazu führen würde, dass  diese arrogante Miene des Pfarrers Züge von dunkler Scham annimmt.     

Still wird  es. Todesstill.  Wenn etwas fürchterliches aus der Kiste nicht nur ekelerregend stinkt, wenn es dazu auch noch Gewicht hat und mit einem dumpfen Geräusch auf der Jubiläums-Bühne landet, dazu die unglückliche schwarze Kiste hinterher. Mit so einem bekannten lauten und dumpfen Holzsturzgeräusch dem ertappten katholischen Priester aus der Umklammerung fällt.

Ich holte Sekt. Dann beobachte ich Pfarrer Helmschmid,  wie er  dieses Kistengeschenk von Grube entgegen nimmt. Er lacht sehr breit, umfasst und schüttelt die Hände des Katholiken mehrere Minuten lang. Aufreizend kaut er an einem Kaugummi und dankt Grube überschwänglich und schüttelt  diese Katholikenhände immer wieder aufs neue, als wolle er etwas Festgestecktes aus dem Kollegen herausschütteln. Dieses Auf und Ab, Grube kann sich nicht dagegen wehren, das Schütteln erfasst seine ganze katholische arrogante Statur. Er wackelt. 

Sandra Fritz 2021/2023

 

Die Schlägerei 

1

Oskar schlich sich an diesem Montagmorgen besonders vorsichtig aus dem Schlafzimmer in den Gang. Er wollte niemanden wecken. Er hatte Übles geträumt. Halbwach stellte er das fest, denn sein rechter Arm hatte zu ihm gesprochen, aus den Fingern hatten zornige Worte geschrien. 

Es war im Grunde sogar eine  Brennende Rede gewesen. Gerädert setze er sich an der Bettkante auf und  fühlte neben entsetzlichem Durst auch, wie das Geschrei im Traum ihn erschöpft hatte als wäre da noch ein Echo in seinen Ohren. Er fühlte sich wie erschlagen. Er hatte von Gehirnwäsche geträumt. Und jetzt hatte er Angst vor den Folgen seines Traums.

Erst vor einer Woche hatte er  in einer medizinisch inspirierten Boulevard-Zeitschrift einen Artikel überflogen. Oskar hatte sich gemerkt, dass es nahezu nichts fragileres am Menschen gibt, als der Kopf und dessen Inhalt.

Im Traum tauchte sogar kurz die zerfledderte Titelseite dieser Zeitschrift auf, die Papierfetzen schwebten über ihm  und rasten mit einer unfassbaren Geschwindigkeit auf ihn zu und eine dunkle verzerrte Stimme im Traum  raunte ihm zu, dass Papierfetzen im Traumland um ein vielfaches schwerwiegender sind, wie Meteoritenhagel schwer und dazu kämen noch die Gravitationskräfte.  Oskar hatte Angst im Traum zu sterben.  Und dazu  wurde sein Arm operiert, wie er entsetzt zusah: Immer wieder der ganzen Länge nach wurde sein Arm nach oben gestreckt. Es kamen  Stimmen aus den einzelnen Fingern  die immer lauter und zorniger riefen. Sogar die Original-Stimme des bereits längst schon vollkommen toten Führers schrie aus seinem Arm heraus, schrie Oskar ins Gesicht. 

Er befand sich in einem großen Raum. Eine übergroße und breite Edelstahlschiebetür spiegelte kaltes Neonlicht. Neben ihm technische Apparate, die Pieptöne von sich gaben, blaue und gelbe Schläuche, die sich meterweit zu Steckdosen schlängelten.  Er war im Schockraum und er war nicht allein. Um ihn herum lagen noch zusätzlich Menschen auf schmalen Operationsliegen, andere saßen in pastellblauen Kunstledersesseln. An allen wurden ausnahmslos Armoperationen, insbesondere Längsstreckungen nach vorne, sowie Verlängerungen mittels Einsätzen aus fleischfarbenem Silikon  – ohne aufwändige Narkose – aber unter Einsatz von Propofol flink durchgeführt. Immer wieder sank er in einen schweren tiefen Narkoseschlaf, nur in  kurzen Momenten, in denen er seine Augenlider öffnete zählte er die herumwuselnden Mediziner und sank bei der Zahl zwanzig wieder in den schweren Bleischlaf der Schmerzbetäubung, die bei ihm nicht die gewünschte Wirkung brachte. Er spürte alles, aber er konnte sich in seinem, durch pharmazeutische Produkte herbeigeführten  einbetonierten Körper, nicht bewegen.  

Es war sehr laut. Unterdrücktes Wimmern hörte er auf eine überlaute Weise, dazu kamen die autoritären Anweisungen der Operateure. Er sah Wortfetzen, die seine Gehörgänge  verstopften und dass ihm diese Wortfetzen mit Pinzetten in die schmalen Gehörgänge gestopft wurden. Er hatte Angst an einem Gehörgangsriss zu verbluten. 

Gleißend hell war der Schockraum und  überheizt.

Die manipulierten Arme streckten sich unmissverständlich zum Gruß nach vorne. Ununterbrochen hoben und senkten sie sich. Es sah aus, als hockten Roboter aus Menschenfleisch in den Sesseln, als schliefen Robotermenschen auf den Liegen. Nur die Arme agierten nach einer rechtsradikalen Choreografie.

Bis Oskar seinen Arm bemerkte. Er tat dasselbe.  Sie wollen Dir einen Flüchtlingsstrom durch dein Gehirn hindurchjagen, dachte Oskar, als sich ihm vollständig in blau eingekleidete Menschen näherten. Man würde ihm seinen Kopf zuerst einmal ordentlich vereisen, so, wie man das eben mache. Das Einzige, was er spüren würde wäre Kälte, vielleicht Eiseskälte. Mehr nicht. Das würde er auch in der Herzgegend spüren. Vielleicht als Stechen, als einen Stich – wegen des Vagus Reizes, das wäre normal. Es hätte geringfügig Einfluss auf das EKG.   – Aber den Flüchtlingsstrom, den hätte er dann immer in sich. 

Jetzt hatte doch einer der Operateure direkt zu ihm gesprochen.

Der sehr lang in seinem Traum nach oben ausgestreckte Arm winkte sogar, als schien er sich über diese ganz offensichtlichen rechtsradikalen Interventionen zu freuen. Oskar hörte, wie seine Hand Freudiges ausrief  und insgesamt waren die Bewegungen ähnlich wie bei Hunden das Schwanzwedeln.  Oskar spürte sein Herz, wie es  laut pochte und Drehschwindel im Kopf vom Flüchtlingsstrom, und wie sich in seinem Mund wässriger Speichel ansammelte, wie kurz vor dem Erbrechen.

Oskar wusste doch alles, denn er hatte einige Vorlesungen „Jüngere Medizingeschichte“ besucht.  

Schnell drehte er sich  von der Liege, fiel auf den Boden, rappelte sich auf und rempelte dabei  einige der medizinischen Akteure. Oskar rannte aus dem Schlaf um sein Leben. Aber vor allem wachte er endlich auf, weil das Gewicht der Bettdecke, die über dem rechten Arm baumelte so schwer wurde, und ihm sein Arm  der Länge nach weh tat. Ihm war schlecht. Er stand auf,  fasste sich an den Kopf, überprüfte seine Ohren.  Seine Haare waren klatschnass. Er schaute neben das Bett und vorsichtshalber auch unter dem Bett. Niemand da. Bis auf das.

Dort lag ein ausgerissener, ganz offensichtlich rechtsradikal bekleideter Arm mitsamt Hand und den dazugehörigen fünf Finger.  

Am Freitagnacht war überraschenderweise der Besuch gekommen. Und seit Sonntag 16 Uhr fuhren keinerlei Züge mehr. Es wurde behauptet, dass Signalstörungen sowie Aufräumarbeiten an den Gleisen die Gründe dafür sind. Schon am Nachmittag stürmte und regnete es in Strömen.
Umgeknickte Bäume,  „wie Streichhölzer“ – so berichteten die Online-Medien und  im Fernsehen liefen schnell schnittige Filmclips, die das Ausmaß einer Naturkatastrophe zeigten, dabei durch Werbung verwaschen. Es wurde wieder vom Flüchtlingsstrom berichtet, der immer noch seit 2015 eine Schneise der Verwüstung durch das weite Meer zieht. – Oskar schaute gerade die Nachrichten, als es an der Tür klingelte. Seine   Verwandten waren gekommen.  Sie glaubten nicht an irgendwelche Signalstörungen – Sie meinten, es läge an politischen Unruhen, wegen den Flüchtlingen.

„Welche politischen Unruhen?“ fragte Oskar nach dem Frühstück.

 „Ihr hattet doch schon bei der Herfahrt Unwetter!“ legte er nach und schraubte das Marmeladenglas zu. Oskar war sich unsicher.

Er schaute aus dem Fenster. Sah nur dunkles, viel grau, er sah Regen. Aber nur, weil er genau auf die Straße schaute. Aber Regenströme waren das nicht.

  „So ein Schwachsinn“ sagte Thorsten.

„Ihr spürt nicht, dass etwas passiert, dass es nicht gibt!“ sagte er und stand auf.

Oskar war immer noch in das Nachbetrachten des Regens vertieft, sah sich dabei am Tisch um, zählte die Anwesenden und war froh, dass auch Thorsten, sein Cousin da war.

Bis tief in die verregnete und stürmische Nacht hatten sie spekuliert, was politische Unruhen sein könnten und was denn nun Flüchtlingsströme genau sind und was man überhaupt tun könne, wenn z. B. der Strom ausfällt, oder wenn es tatsächlich dazu käme, dass plötzlich nichts mehr da wäre vom Frieden außer Handgemenge beim Einkaufen oder gar beim Bargeld abheben – Ob man das tatsächlich den Flüchtlingen unterschieben könnte?

 Sie bauten sich Schlaflager. Im Wohnzimmer wurden Sessel umgestellt, Tische verrückt, kleinere Anrichten verschoben. Alle waren beschäftigt, holten Bettdecken, Überzüge, klopften Kissen und schüttelten Decken zurecht. Sie redeten kaum noch dabei. Es herrschte ein gedrückte Stimmung, als es gegen 3 Uhr morgens in der Wohnung von Oskar still wurde und alle schliefen.  

3

Und so wollte Oskar morgens im Gang wirklich niemanden wecken, er bewegte sich präzise, dabei leise, denn er wollte noch niemanden sehen und etwas sagen müssen.
Zudem, was er gerade unterm seinem Bett entdeckt hatte und was er noch vage aus seinem Traum erinnerte. Er wollte schnell etwas Kaltes trinken, schlich zur Küchentür. Aber bereits beim Öffnen der Tür war er da. Der rechtsradikale Arm, was Oskar für einen kurzen Moment nur für ein Flash-Back hielt. Wie ein abgeschossener Pfeil flog der Arm zielgerichtet und schlug ihm mit aller Wucht des 3. Reiches ins Gesicht. Oskar konnte am Türrahmen Halt finden, spürte, dass im warmes Blut aus der Nase tropfte.

Er riss beide Arme vor sein Gesicht, weil der körperlose, ausgerissene Arm aufs Neue auf ihn zuschoss und er sein Gesicht dieses Mal schützen wollte. Wie ein wildes, riesiges Fluginsekt schoss der Arm mit ausgesteckter Hand hin und her, pausierte nur immer kurz, einmal auf dem Herd, einmal auf dem Schrank, einmal auf dem Fenstersims, und einmal auf dem Fliesenboden,  einmal auf dem Tisch. Dazwischen aber traf die Hand zur Faust geballt immer Oskar mitten ins Gesicht.  Eine gebrochene Nase. Ein Zahn klebte am Oberteil von Oskar, Blut quoll aus seinem Kinn.

Oskar schaffte es zur Spüle, hielt sich am Beckenrand fest. Er hatte viel eingesteckt. Der Arm lag ausgestreckt auf dem Küchentisch neben dem großen Holzbrett, daneben das Messer. Blitzartig warf sich Oskar auf den Tisch und begrub den Arm unter seinem Gewicht. Der eklige Arm zappelte, die einzelnen Finger versuchten sich in seinen Bauch zu bohren. Oskar griff nach dem Messer. Die Spitze des Messer stieß er mit voller Kraft in den Unterarm und fixierte ihn auf dem Küchentisch.

Fern vom Gang her rief seine Tante. Oskar packte den Arm schnell, er hing schlaff am Messer und stopfte ihn in die Gefriertruhe. Kaum hatte er den Deckel geschlossen näherte sich seine Tante der Tür. Ihr Gewicht in Socken auf Laminat – Oskar konnte es fast körperlich spüren. 

„Im Bad gibt es kein Warmwasser!“ rief sie.

Das ist kein Problem dachte Oskar, griff in die Schublade, holte ein Taschentuch und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, zündete eine Zigarette an.  Hastig und nervös bewegte sich der Qualm in der Küche.  Gedämpftes, leises Pochen und kaum hörbare Kratzgeräusche drangen aus der Gefriertruhe wie Kriechkälte.

Er konnte nur drei Züge nehmen, seine Tante verlangte das zweite Mal nach warmem Wasser, sie kam aus der Toilette. 

Plötzliche war da eine anzügliche Stille in der Küche, der Zigarettenqualm blieb stehen. Oskar glaubte, jemanden atmen zu hören.  

Er flüchtete in den Gang, der Flurboden knarzte laut.  – Laminat? Fragte sich Oskar unsicher.  Obwohl er müde war, erschöpft und zusammengeschlagen schien sein Gesicht zu lächeln. 

Draußen stürmte es wieder. 

Sandra Fritz

2019

 

 

 

Die Kochwäsche 

Der Wäschekorb war sehr beladen, als Eva mit ihm in das Treppenhaus ging, um nach unten zur Waschmaschine zu gehen. Der Lichtschalter war defekt, nur vom unteren Stockwerk fiel schummriges Licht auf die Treppe.

Sie zog die Wohnungstüre zu, klemmte den Wäschekorb fest zwischen Hüfte und Unterarm und stieg langsam die Treppen nach unten in den Keller. Sie hatte wenig an, war schon in Nachthemd und Wollsocken, leichte luftige Hausschuhe an den Füßen, die Haare locker zusammen gebunden.

Niemand im Treppenhaus, niemand zu hören.

In der Waschküche roch es frisch und warm. Sie kniete sich vor ihre Maschine und öffnete die runde Tür der Maschine, im selben Moment kroch ein Zungenkuss aus der Maschine an ihren Oberschenkeln entlang und sagte zur ihr komm doch zu mir in diese Maschine, ich bin schon so lange allein.
Eva war teils erschrocken, teils aber sofort erfasst von diesem feucht-warmen Zungenkuss, der sich seinen Weg bahnte und inzwischen an ihren Lippen vorbei mitten in der Waschküche vor ihr stand. Er war sehr groß und glitschig, er roch nach Tiefsee, zugegeben nur ganz leicht nach menschlichem Speichel, er machte einen fließenden, sehr bewegenden Eindruck auf Eva und, er war ausgesprochen höflich, im Grunde.

Eva fragte den Zungenkuss, woher er denn so plötzlich käme, und was er denn nun vorhabe. Sie sagte ihm auch, dass sie die Wäsche zum Waschen in die Maschine tun wolle, sie brauche frische Wäsche.
Ja, sagte der Zungenkuss, legte sich auf ihre rechte Wange und hinterließ eine feuchte Spur und eine nur von Zungen machende Bewegung.
Mach es, sagte er leise und fast hatte Eva das Gefühl, dass dieser Zungenkuss ernste Absichten mit ihr habe.

Vielleicht kann ich mit diesem Zungenkuss aus meiner Waschmaschine ein glückliches Leben bis zu meinem Lebensende führen?

Du kannst mit mir über alles sprechen, sagte der Zungenkuss und ich will dir sagen, dass ich deine Gedanken kenne. Denn nun, da ich in Deiner Waschmaschine wohne und ich schon so lange in Deiner Kleidung liege und so frisch gewaschen bin, was kannst Du gegen mich haben? Fragte der Zungenkuss mit Furcht in der Stimme.

Eva packte die Wäsche in die Maschine und stellte das Programm ein, sie wollte 60 Grad waschen, entschied sich aber doch für Kochwäsche.
Ist ja fast nur weiße Wäsche sagte der Zungenkuss. Bei Sprechen klang es ein wenig wie Blubbern und fast sah es auch so aus, als bildeten sich um den Zungenkuss herum kleine winzige Luftblasen, wie unter Wasser.

Der Zungenkuss wartete geduldig im Raum. Eva stand vor ihm und zog ihn zu sich, und dann küsste sie den Zungenkuss. So etwas hatte sie niemals zuvor erlebt. Während sie vollkommen innig den Zungenkuss küsste, dabei ihre Haare aufgingen und ihre Wollsocken, auch das Nachthemd auf dem Boden lagen und die Waschmaschine sich drehte mit der Kochwäsche im Kreis , da war Eva klar, dass sie nie wieder ohne Zungenkuss würde leben wollen. Nur ab und zu wurden die Geräusche, die der Zungenkuss und Eva machten durch die unterschiedlichen Programmpunkte des Waschprogramms unterbrochen. Der Klangteppich war lustbetont, tief klingend. Fisches Wasser bekam die Wäsche und der Zungenkuss bekam gefühlvolle Küsse von Eva. Die Kochwäsche dauerte zwei Stunden und es war sehr warm in der Waschküche geworden.  – Im Treppenhaus brannte kein Licht mehr.

Sandra Fritz

2019

Alle Texte sind urheberechtlich geschützt und Eigentum der Autorin Sandra Fritz. Ausdruck und Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin Sandra Fritz

Eine Handlung

(eine Parabel)

Guten Tag“ sagt eine Hand. Guten Tag“ sagt die andere Hand. Die ersten Hände, die Guten-Tag zueinander sagen.

Der Arzt ist gleich da.“ Sagt die Assistentin, seine rechte Hand.

Sie schickt beide Hände in das Wartezimmer.

Erste Tür rechts bitte. – Und bitte“, sagt sie zu den beiden Händen, dabei beugt sie sich über den Tresen der Anmeldung. – „Bitte seien Sie vorsichtig. – Es sind schon einige Augen, auch Kinderaugen im Wartezimmer. – Dass sie nicht – aus Versehen vielleicht – mit ihren Händen anderen Augen schaden.“

Beide Hände nicken und trippeln langsam in Richtung Wartezimmer. Plötzlich fällt eine der beiden Hände in Ohnmacht. Der Handrücken verfärbt sich blitzartig von rosa-fleischfarben ins aschfahle Grau. Gerade noch rosig und gut durchblutet, liegt er jetzt bleich und flach, wie gepresst auf dem Flurboden der Praxis.

Kein Finger regt sich an der Hand. Nicht einmal ein Zucken der Fingerglieder. Nichts.

Die erste Hand, die zuallererst „Guten Tag“ zur Rezeptionistin gesagt hatte, krabbelt aufgeregt zum Tresen zurück und pocht zur Faust geballt gegen das Holz. Vor Schreck fällt der Assistentin der Telefonhörer aus der Hand. Schnell beugt sie sich nach vorne und fragt nach.

Ja – sie wünschen?“

Kommen Sie bitte schnell!“ sagt die Hand mit ängstlich gepresster Stimme und deutet mit ihrem Zeigefinger in den langen Flur.

Die andere Hand, dort liegt sie und sie regt keinen Finger mehr!“

Die Assistentin, sie wird ganz blass um den Mund, springt vom Stuhl auf und rennt in den Flur. Tatsächlich, die andere Hand liegt vollkommen reglos am Boden. Sie scheint nicht einmal mehr zu atmen.

Es gab keine Handschuhe mehr. Deswegen war die ohnehin hellhäutige Assistentin noch viel hellhäutiger, eben sehr blass geworden, weiß wie eine Wand sozusagen, als sie sich niederbeugte, in die Knie ging, um so etwas wie Erste Hilfe zu leisten. Aber sie konnte nicht. Sie wollte Hand anlegen, aber da fiel es ihr ein: Nichts berühren. Bloß nicht. Es gab diese Anordnungen, diese Hygieneregeln.

Und so konnte der Arzt kurze Zeit später nur noch den Tod der Hand feststellen.

Er tat es aus der Ferne, von oben, denn er konnte den Tod der Hand bereits aus dem Stand heraus erkennen. Von oben herab hatte er auf den Boden geschaut, auf die Hand, die schlaff am Boden lag. Er hatte  ein digitales Zertifikat und war geübt mit der Videosprechstundentelefonie, sogar der Auswertung von pathologischen Patientenfotos, die man ihm schicken konnte. Deshalb brauchte er auch überhaupt gar keine Hygieneutensilien.

Beide, der Arzt und die immer noch bleiche Assistentin, hatten sich dennoch einige Zeit überlegt, mit welchem Behelfswerkzeug sie nun diese Hand vom Boden überhaupt aufheben können, damit der Praxisalltag weiter gehen könne.

Alle Augen, die im Wartezimmer warteten klebten an der durchsichtigen Wartezimmertüre und hatten die ganze Zeit alles beobachtet. In manchen Augen war nackte Angst und kalter Schrecken zu sehen sogar Tränen. In manchen war nur ein trauriger, irgendwie nass-dunstiger Blick. In anderen eine züngelnde, nahezu zügellose Neugier.

Nach und nach glitten sie von der halbdurchsichtigen Milchglasscheibe, einige fielen sogar herunter. Landeten auf anderen Augen, die sich paarweise zu finden suchten. Ein richtiger Augensalat. Aber nach und nach rollten alle zurück zu ihren Plätzen.

Manche rollten zu weit, bewegten sich wie angeschobene Kugeln irrwitzig im Raum herum, stießen sich an einer Bodenvase an oder kullerten unter das Tischchen für Zeitschriften. Dort lagen sie quer, falsch herum sozusagen. Die meisten aber kullerten sich einfach nur aus. Alle Wimpern vibrierten wie die vielen Füßchen einer Spinne, die Beute im Netz hat.

Und die tote Hand wurde dann mit einem Hebeinstrument aus der Gartenabteilung eines Baumarkts sehr umständlich in einen Plastiksack für gebrauchte Medizinprodukte gepackt und dicht verschlossen.

Die Assistentin wurde dann auch wieder rosig im Gesicht und legte Lippenstift nach und kämmte sich im Nebenzimmer die Haare zurecht.

Gegen 16:30 gelang es einem etwas blass rosafarbenem Mund, körperlos aber mit starken Atemzügen die Praxis zu betreten. Selbstredend auf umständliche Art und Weise. Er schob die Lippen vor und zurück um überhaupt die Tür zu öffnen um dann über die Schwelle zu schlüpfen, was diesem Mund auf geschmeidige, gleitende Weise gelang. So kam er durch einen schmalen Spalt, zunächst völlig ungesehen von der Assistentin, durch die Tür in die Praxis. Seine Lippen, die nach vorn vorquollen und sich groß, beinahe ödem artig breit zuerst am Tresen festsaugten, um sich wie nach der Art eines Wurms weiter fortzubewegen, arbeiteten hart. Er schien ein bestimmtes Ziel zu verfolgen.

Die Stülp- und Kriechbewegungen der Lippen endeten an der Spuckschutz-Plexiglas-Wand. Dort haftete der ganze Mund, so dass er zunächst nichts sagen konnte, denn dazu müsste er seinen Saugreflex unterdrücken und riskieren jäh zu Boden zu stürzen. Aber er glitt durch den kleinen Spalt, der Handreiche hindurch. Nur noch wenige Zentimeter vor dem hübschen Gesicht der Assistentin entfernt, entfaltete er sich wieder ganz, wirbellos zu Unter- und Oberlippen, die schwerelos vor ihr wie zu zittern begannen. Dann kamen Worte aus ihm heraus. Die Satzmelodie klang wässrig, plätschernd, es hätten nur noch Blubberblasen gefehlt, dann hätte man an eine Unterwassersituation mit allem Drumunddran denken müssen. Aber das gab die Situation nicht her.

Der Mund sagte, er habe sich im letzten Quartal bereits Hals über Kopf in die Assistentin verliebt.

Da stand die Assistentin auf und berührte den Mund mit ihrer Hand vorsichtig, beinahe zärtlich. Dazu nahm sie dann doch beide Hände. Davor hatte sie den Kugelschreiber und eine gesetzliche Versichertenkarte beiseite gelegt. Denn dieser Mund war schön, groß, weich von allen Seiten gut proportioniert.

Sie zögerte nicht lange, sie sagte: „Schnell !“ Und sie sagte: „Lass uns fliehen.“

Sandra Fritz 2021